Wochenabschnitt Mikez – “Mitgefühl” trotz Verurteilung

Datum: | Autor: Rav Chaim Grünfeld | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Urteil

Als der ägyptische Vizekönig Josef seine Brüder als “Spione” beschuldigte – ‘Meraglim atem’ – und von ihnen einen Beweis für ihre Redlichkeit (Ehrlichkeit) verlangte, Binjamin nach Mizrajim zu bringen, während einer der Brüder als Bürge zurückbleiben musste, sprachen die Brüder zu einander (42,21): „Gewiss tragen wir die Schuld an unserem Bruder [Josef], dass wir die Not seiner Seele mitangesehen haben, als er uns anflehte [ihm nichts anzutun] und wir nicht hörten. Darum ist diese Not über uns gekommen!

Rabenu Bachja sZl. sagt dazu:

„Dies ist der Weg der Zadikim: wenn sie sündigen, geben sie dies auch zu. Die Rescha’im hingegen behaupten immer, nicht gesündigt zu haben…“[1]

Wie der Ramban und Rabbi Owadja Sforno sZl. erklären, verstanden die heiligen Brüder sehr wohl, dass die über sie gekommene Not eine g’ttliche Fügung war, und sie taten sie nicht als gewöhnliche, natürliche Begebenheit ab. Deshalb kontrollierten sie alle ihre begangenen Taten und fanden, dass sie sich bisher eigentlich nie versündigt hatten – selbst nicht mit der „Mechirat Josef“ (Verkauf des Josefs), weil sie diese ihrer Ansicht nach zu Recht ausführten. Einzig für das “unbarmherzige Zuhören” von Josefs Flehen[2] fanden sie sich schuldig: Wie konnten sie nur so grausam sein?!

Dieses Schuldeingeständnis ist aber schwer zu verstehen:

Bei der Ausführung der Todesstrafe durfte das ‘Sanhedrin’ ebenfalls kein Erbarmen mit dem Sünder haben, sondern musste die von der Torah vorgeschriebene Strafe ausführen[3]. Wenn also die Brüder den Josef gemäss den Gesetzen der Torah für todesschuldig hielten, hätte sie gar kein Erbarmen mit ihm haben können. Wie kann es daher sein, dass sie wegen ihrer gegen Josef ausgesprochenen Strafe weiterhin keine Reue zeigten, weil sie von ihrem Entscheid nach wie vor überzeugt waren, jedoch ihre “Grausamkeit” bereuten? Was hätten sie denn machen sollen – ihn überhaupt nicht bestrafen?

Ausserdem ist die Selbstbeschuldigung der mangelnden Barmherzigkeit auch aus einem anderen Grunde unverständlich: Sie hatten doch schon die Todesstrafe Josefs gegen eine „lebenslängliche Strafe“ – Sklaverei – getauscht?

Im Midrasch werden die Brüder dafür gelobt, dass sie nach intensiver Selbstkontrolle bei sich überhaupt keine andere Sünde ausser diese fanden![4]

Es scheint daher, dass die “Schiwte Jisrael” (Stämme Jisraels) sich so weit unter Kontrolle hatten, dass sie nicht nur alle ihre Taten und Gerede kontrollieren konnten, sondern auch auf ihre Gefühle achteten.

Nun fanden sie, dass ihre damalige Entscheidung zwar richtig war, dass aber während des Fällens des Todesurteils über ihren Bruder Josef ein ungenügendes Mass an Erbarmen in ihren Gefühlen herrschte. Wenn Brüder ein solch schreckliches Urteil fällen müssen, so hätten sie gewaltigen Schmerz verspüren müssen. Wer man jedoch ein solches Urteil kalt und emotionslos fällt – auch wenn man keine andere Wahl hat -, weist dieses Verhalten auf ein ziemliches Mass an Grausamkeit hin!

Da hier nun die Rede von Zadikim ist, so dürften sie eindeutig Mitleid für ihren Bruder verspürt haben, wie dies auch aus den Reaktionen von Re’uwen und Jehuda hervorgeht, die ja dazu führten, dass Josef verkauft anstatt getötet wurde. Da der mizrische Herrscher alle Brüder gleich auf einmal als “Meraglim” bezichtigte, erklärt der Zeror haMor, verstanden sie, dass man im Himmel sie alle mit demselben Mass für schuldig betrachtete und Re’uwen und Jehuda trotz ihrer Fürsprache nicht bevorzugte.

Deshalb bedauerten die Brüder im Nachhinein, dass sie – insbesondere für Menschen ihres Ranges – bei diesem Urteilsspruch nicht genügend Erbarmen und Mitgefühl gegenüber ihrem Bruder gezeigt hatten – אבל אשמים אנחנו.

Gemäss Don Jizchak Abrabanel sZl. kamen die Brüder auf diese Gedanken erst durch das Urteil des ägyptischen Herrschers, der ihnen gestattete, zuerst ihren Familien Nahrung nach Hause zu bringen und erst danach ihre Unschuld beweisen zu müssen. Diese barmherzige Geste von Josef erregte ihre Aufmerksamkeit. Wenn der mizrische König gegenüber völligen Fremden solche Rücksichtnahme zeigt, wie viel Mitgefühl hätte dann die eigene Familie untereinander haben sollen?!

  1. Siehe ferner Midrasch haGadol und Zeror haMor zur Stelle
  2. Siehe ausführlich in Midrasch Bereschit Rabba 91,8
  3. Dewarim 19,13, Sefer haChinuch Mizwa 521 und Rambam Hilchot Sanhedrin 20,4
  4. Midrasch Bamidbar Rabba 13,18

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