Der Talmid Chacham und “Kiruw Rechokim”

Datum: | Autor: Rav Schlomo Wolbe | Drucke diesen Beitrag Drucke diesen Beitrag
Talmid Chacham
Raw Schlomo Wolbe SZL wurde 1914 in Berlin geboren. Er lernte in der Jeschiwa Mir in Polen und wurde naher Schüler des großen Maschgiach Raw Jerucham Leiwovitz SZL. Raw Wolbe war einer herausragende Mussar-Persönlichkeit seiner Generation, der viele Schüler großzog.

In der Haftarah von ‏Jom Kippur lesen wir:‏

הֲלוֹא פָרֹס לָרָעֵב לַחְמֶךָ וַעֲנִיִּים מְרוּדִים תָּבִיא בָיִת כִּי תִרְאֶה עָרֹם וְכִסִּיתוֹ וּמִבְּשָׂרְךָ לֹא תִתְעַלָּם: אָז יִבָּקַע כַּשַּׁחַר אוֹרֶךָ וַאֲרֻכָתְךָ מְהֵרָה תִצְמָח וְהָלַךְ לְפָנֶיךָ צִדְקֶךָ כְּבוֹד יְהוָה יַאַסְפֶךָ: (Jeschaja 58,7-8)

„Fürwahr, für den Hungrigen breche ein Stück Deines Brotes ab und bringe den heruntergekommenen Armen ins Haus – siehst Du den Nackten, so decke ihn zu und von Deinem Fleische entziehe ihn nicht – dann wird Dein Licht wie die Morgenröte durchbrechen und Deine Heilung bald sprießen, Deine Gerechtigkeit wird Dir vorangehen, die Ehre G’ttes Dich einfangen.” Wir warten und halten Ausschau nach dem Durchbruch der Morgenröte, nach der Genesung und Heilung des Klall Jisrael – der Prophet teilt uns mit, dass wir dieses Ziel erreichen werden, wenn wir nur mit dem Hungrigen unser Brot teilen und den Ärmsten der Armen in unser Haus einlassen; an unseren Taten werden wir gemessen, von ihnen hängt unsere Morgenröte ab. Betrachten wir die Erläuterungen unserer Chachamim zum eingangs erwähnten Zitat in „Wajikra Rabba” 34,13 und achten wir dabei genauestens auf die Analyse des Wortes ‏,מרודים das wir gewöhnlich als „die heruntergekommenen” (Armen) zu übersetzen pflegen. Nicht so unsere Weisen. Sie teilen diesen Ausdruck in ‏,מרו-דים wobei der erste Teil die Bedeutung von „Durst stillen-erquicken-verköstigen” hat und dann der Auftrag des Propheten Jeschajah folgendermaßen lautet:

ועניים מרודים תביא בית, אילו תלמידי חכמים שהן נכנסין בבתיהן שלעמי הארץ ומרווין אותן מדברי תורה. לכך נאמ‘ ועניים מרודים תביא בית.

‎Die ‏עניים‎ sind nun plötzlich nicht mehr die von uns gemeinten Armen, nein, es sind dies die Talmidei Chachamim, die sich ihrerseits in vollster Bescheidenheit und Demut in die Häuser der „Armen”, der Unwissenden, begeben sollen, um sie mit den Worten und dem Inhalt unserer Tora zu erquicken und sie so wieder liebevoll zu ihrem Ursprung zurückführen. Welch ungeheure Vertauschung der Rollen bietet uns hier der Prophet an, damit uns die Morgenröte erstrahle. Nicht die „Armen”, nicht die „Unwissenden” haben sich zum Talmid Chacham zu begeben – der Nawi erspart ihnen diesen Weg des Ärmsten – sondern der ‏,מרווה‎ der Erquickung und Belehrung spendende Talmid Chacham stempelt sich selbst zum Armen, auf keinerlei Ehre bedachten, gleichsam heruntergekommenen Bruder, der ins Haus des Suchenden, des Unwissenden geht und ihn dort beschenkt mit seinen Geistesgaben und ihn durch seine eigene Bescheidenheit aus seiner Armut herausführt, ihn bedeckt, bekleidet mit dem Lichte der Tora, dass auch für ihn die Morgenröte anbricht. Vergessen wir nicht den Ausgangspunkt dieser Ausführungen. Wir lesen diese Haftarah aus Jeschajah am Jom Kippur – am Tage des Gerichts wird der Talmid Chacham mit der Aufgabe konfrontiert: Entsage Dich jeglichen Anfluges von Stolz und Ehre und stemple Dich selbst zum „spendenden Armen”, auf dass der Ärmste durch Dich emporgehoben wird. Unsere Weisen bieten Dir Hand in den heiligen Tagen der Selichotgebete, indem sie in genauester Abwägung der von ihnen verfassten Gebete einen minutiösen Unterschied machen zwischen dem wirklich Armen und dem, der ihm ähnlich ist. Bis zum Jom Hadin vergleichen wir uns nur mit den Armen: ‏”כדלים וכרשים דפקנו דלתיך“‎-„wie Arme und wie Hungernde klopfen wir, oh Allmächtiger, an Deine Türen” -es ist der „Kaw Hadimjon”, nur als ob, noch nicht wirklich, aber dann, am Jom Hadin selbst – dann endlich bekennen wir und rufen aus:‏“ראה עמידתנו דלים וריקים”‎ – „siehe doch, oh G’tt, wie wir jetzt vor Dir stehen: Arme und Leere” – und nichts anderes. Das sind keine Gleichnisse, das ist die nackte Tatsache in ihrer tiefsten Wahrheit, so stehen wir vor dem Allmächtigen und bitten um Verzeihung, auf dass die Morgenröte erstrahle, indem wiruns als Arme und Erniedrigte vor dem Schöpfer empfinden! Die Parallelelität zu unserer Haftarah wird immer augenscheinlicher. Der wahre Talmid Chacham kennt keinen Stolz, keine Überheblichkeit, weil unsere Tora sie ebenfalls nicht kennt – im Gegenteil, unsere Tora baut eine Welt ohne Stolz, eine Welt, die weiss, dass Grösse und Stolz nur dem Allmächtigen gebühren und je tiefer die Tora in uns eindringt desto bescheidener, kleiner und ärmer werden wir uns fühlen. Dann aber wird der „arme” Talmid Chacham in seiner Bescheidenheit und durch seine „echte Armut” dem Unwissenden die Größe und Erhabenheit der Tora in sein Haus bringen und ihn leben mit den Köstlichkeiten unserer Lehre. Und der so beschenkte Arme wird den Talmid Chacham nie und nimmer verdächtigen, dass er um seines Ehrgeizes willen zu ihm ins Haus gekommen ist. Und er wird endlich spüren, wo unsere Größe liegt im Gegensatz zu derjenigen der andern Völker:‏ ‎„Nicht weil Ihr zu den zahlreichsten aller Völker gehört – Ihr zählt ja zu den winzigsten – ja, Ihr macht Euch selbst klein – mit aller Größe, die ich Euch zugeteilt habe, immer wieder bescheidet Ihr Euch selbst.” Und die andern Völker? „Ich habe Sancherib Grösse gegeben und er spricht überheblich: Ich gleiche dem Höchsten!” und Nebuchadnezar gar prahlt stolz: „Auf dem Throne G’ttes habe ich gesessen! – Awraham Awinu aber sagt im Zwiegespräch mit G’tt: „Und ich bin doch nur Staub und Asche” – während Mosche Rabbenu zum hadernden Volke ruft: „Und wir (Aaron und Mosche), was sind wir denn?!”. Und König David, der große Psalmist, bekennt gar: „Und ich bin ein Wurm – kein Mensch”! Awraham, Mosche, David – Prototypen der ‏,עניים מרדים‎ der sich selbst zu Ärmsten stempelnden Talmidei Chachamim, die in ihrer unendlichen Bescheidenheit nur eine Aufgabe kennen:‏ועניים מרודים תביא בית‎ die Tora in die Häuser jener zu tragen, die von ihr noch nichts wissen und dadurch so zur Größe des Einzigen beizutragen, dem Grösse gebührt.‎ Alle, die sich mit Kiruw Rechokim abgeben, sehen einen außerordentlichen Erfolg in ihrer Arbeit. ‎EIN FUNKE GENÜGT und die Flamme der Tora wird sich mit Windeseile verbreiten!

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